Betrachtung zum Sonntagsevangelium Von Sr. Aurelia Spendel OP
Als Kinder haben wir
gerne Personenraten gespielt. Jede, die mitspielte, durfte sich einen Menschen ausdenken,
den sie darstellen wollte. Mann oder Frau, real oder fiktiv, eine Gestalt aus ihrem
Lieblingsmärchen genauso wie die Metzgersgattin von nebenan.
Dieses Spiel nannten
wir ganz schlicht und einfach nur „Kennen“. Erkennst du diesen Menschen, dem ich Ausdruck
verleihen will? Findest du heraus, wen ich meine? Siehst du den König und den Narren,
die Prinzessin und die Hexe, Frau Meier, Herrn Müller, die gute Fee oder die böse
Zauberin in mir?
Die Kunst bei diesem Spiel war, nicht zu viel zu verraten
– auf der einen Seite; aber auch – auf der anderen Seite – nicht im Allgemeinen hängen
zu bleiben, nicht zu diffus zu sein, so dass sich die Mitspielerinnen enttäuscht oder
gelangweilt abwandten und nicht mehr weiter raten wollten. Spannung musste aufgebaut
und durchgehalten werden, bis sich das Rätsel lösen lassen konnte und eine von uns
triumphierend, voller Stolz und Entdeckerinnenfreude den gesuchten Namen erlösend
ausrief.
Vielleicht hat sich von dieser Lust am Kennen, am Erkennen eines Menschen
etwas hinübergerettet in das Leben der Erwachsenen: Vorsichtiges Erkunden eines Fremden,
der so ganz anders ausschaut als die vertrauten Gesichter. Allmähliches Hinwenden
zur Nichtbeachteten, die außerhalb des Rampenlichtes steht, aber intensiv denken und
leben kann. Behutsames Berühren von Menschen, die einen schmerzlichen Stand im Leben
haben, die ihr Inneres bedeckt halten aufgrund tiefer Enttäuschungen, all das könnten
Früchte unseres kindlichen Spielens sein, von denen die Mädchen von damals heute als
Erzieherin, als Altenpflegerin, als Ärztin oder als geistliche Begleiterin leben.
„Wer
bist du? Woran erkenne ich dich? Wie zeigst du dich mir?“ ist eine spannende und ist
und war auch manchmal eine Leben entscheidende, eine Weg weisende Frage.
Diese
Frage nach dem Kennen einer Person, dem Erkennen eines Menschen stellte sich vor zweitausend
Jahren dem letzten Propheten einer zu Ende gehenden Zeit. Sie stellte sich dem Cousin
Jesu, Johannes dem Täufer. Er, der Schwellenprophet, aufrecht und treu dem Alten verhaftet,
sah dem Neuen mutig ins Gesicht, als er auf sich zukommen sah, was die Welt, auch
die seine, von Grund auf verwandeln würde. Johannes hielt dem Endgültigen stand und
stellte sich in seinen Dienst.
Dabei machte es ihm der, von dem er geträumt,
den er ersehnt und den er verkündet hatte, nicht leicht. Johannes Kennenlernen Jesu
geschah nicht in einer blitzartigen Eingebung. Kein erhellender Moment, kein blendender
Lichtfunke öffnete ihm die Augen, damit er sagen konnte: Seht das Lamm Gottes. Zwei
Mal muss Johannes zugeben: Ich kannte ihn nicht. Auch ich, selbst ich, sein Prophet,
kannte ihn nicht. Er war vor mir wie vor euch ein Verborgener. Jesu Erscheinen vor
Johannes spiegelt die beiden Anwesenheiten Gottes unter den Menschen wider: Gott erscheint
vor aller Augen im Geist und im Wort und ist auch der, der im Verborgenen sich verbergend
da ist.
Rainer Maria Rilke (1875-1926), einer der größten Lyriker deutscher
Sprache, hat sich mit Johannes dem Täufer beschäftigt, zumindest mit seiner Funktion
als der eines Mannes, der den Blick unbestechlich auf die Gegenwart richtet und der
klar sieht, was kommt, sieht, wer kommt. Rilke bringt Johannes in seinem Gedicht „Das
letzte Zeichen laß an uns geschehen“ in Zusammenhang mit einer überraschenden
Gestalt des Ersten, des Alten Testamentes, die man hier nicht vermuten würde. Rilke
ruft den König und Dichter, den Feldherrn und Liebhaber, den zum Töten Anstiftenden
und den Heiligen David auf, wenn er den Täufer charakterisieren und ihn uns zu erkennen
geben will. Im Ersten Buch der Chronik, im 15. Kapitel, wird erzählt, wie die Bundeslade
von Gat, aus dem Haus des Obed-Edom nach Jerusalem gebracht wird, damit Gott unter
seinem Volk wohnen kann. Ein festlicher Umzug, eine machtvolle Demonstration des Königtums
Gottes - und das des David! Beim Einzug der Lade tanzt David so enthusiastisch, dass
er seiner Frau Michal zum Ärgernis wird. Auf diese Szene bezieht sich Rilke in den
Schlussversen seines Gedichtes, wenn er sagt: ... lass mich Tänzer dieser Bundeslade,
lass mich den Mund der neuen Messiade, den Tönenden, den Täufer sein.“
Rilke
schreibt dieses Gedicht am 16. April 1903 als 28jähriger während eines vierwöchigen
Aufenthaltes in Viareggio in der Toskana. Es ist Teil und Ausdruck seiner Auseinandersetzung
mit fundamentalen Fragen der menschlichen Existenz, die er im dritten Buch seines
Stundenbuches als „Das Buch von der Armut und vom Tode“ poetisch bearbeitet.
Rainer Maria Rilke weiß um die Gebrochenheit des Menschen, um seine Vorläufigkeit,
um seine nie endende Schwäche. Er selber ist kein strahlender Held, kein unbesiegbarer
Heros, keine moralische Lichtgestalt und doch fühlt er, dass er etwas Unverzichtbares,
etwas Gültiges zu sagen hat. Rilke ist da, ist in der Welt und flüchtet nicht aus
ihr in das abgehobene, esoterische Abenteuer. Er lässt nicht los, wenn es um das Diesseits
geht, um das Jetzt, um die Unausweichlichkeit einer unsteten und doch beständigen
Verzweiflung. Johannes der Täufer ist für ihn der, der in seinem Umkehrruf auf das
Jetzt verweist, auf die Anwesenheit des Endgültigen. Er hüpft, so Rilke, mit seiner
Predigt vor der Bundeslade des Neuen Bundes, als er Jesus, den Sohn Davids, auf sich
zukommen sieht, so wie er im Leib seiner Mutter hüpfte, als die schwangere Maria ihre
Verwandtes Elisabeth besucht.
Die Fleisch gewordene Gegenwart Gottes, dessen
Geist nun nicht mehr auf der hölzernen Lade, sondern auf dem Menschensohn ruht, braucht
einen Vortänzer, einen Eintänzer, der die Menschen zum Tanz einlädt, die wie Schafe,
die keinen Hirten haben, belastet von ihrer Schuld, am Ufer des Lebens stehen. Er
braucht einen, der euphorisch und nüchtern, jubelnd und klagend, warnend und tröstend
immer neue Schritte wagt und weder der Resignation der Schwachen noch dem Hochmut
der Mächtigen die Kraft seines Leidens und seines Liebens leihen wird.
Das
Evangelium des zweiten Sonntags in diesem Jahreskreis, lädt ein, Sie und mich, Tönende,
Predigerinnen und Prediger des unter uns erschienenen Messias zu werden. Es lädt uns
ein, heraus zu kommen aus dem Verstummens unserer erstarrten Träume, heraus aus der
Sprachlosigkeit von Gleichgültigkeit und Angst, heraus aus dem Verlust der Liebe,
damit wir sagen können: Ich kannte ihn nicht. Aber jetzt kenne ich ihn, den Gesalbten,
den Retter, den Einzigen, den Herr über mein Leben und über meinen Tod. So wünsche
ich Ihnen und mir einen tönenden, einen lebendigen, einen lichtflutenden Sonntag.