2008-01-19 16:33:39

Betrachtung zum Sonntagsevangelium
Von Sr. Aurelia Spendel OP


RealAudioMP3 Als Kinder haben wir gerne Personenraten gespielt. Jede, die mitspielte, durfte sich einen Menschen ausdenken, den sie darstellen wollte. Mann oder Frau, real oder fiktiv, eine Gestalt aus ihrem Lieblingsmärchen genauso wie die Metzgersgattin von nebenan.

Dieses Spiel nannten wir ganz schlicht und einfach nur „Kennen“. Erkennst du diesen Menschen, dem ich Ausdruck verleihen will? Findest du heraus, wen ich meine? Siehst du den König und den Narren, die Prinzessin und die Hexe, Frau Meier, Herrn Müller, die gute Fee oder die böse Zauberin in mir?

Die Kunst bei diesem Spiel war, nicht zu viel zu verraten – auf der einen Seite; aber auch – auf der anderen Seite – nicht im Allgemeinen hängen zu bleiben, nicht zu diffus zu sein, so dass sich die Mitspielerinnen enttäuscht oder gelangweilt abwandten und nicht mehr weiter raten wollten. Spannung musste aufgebaut und durchgehalten werden, bis sich das Rätsel lösen lassen konnte und eine von uns triumphierend, voller Stolz und Entdeckerinnenfreude den gesuchten Namen erlösend ausrief.

Vielleicht hat sich von dieser Lust am Kennen, am Erkennen eines Menschen etwas hinübergerettet in das Leben der Erwachsenen: Vorsichtiges Erkunden eines Fremden, der so ganz anders ausschaut als die vertrauten Gesichter. Allmähliches Hinwenden zur Nichtbeachteten, die außerhalb des Rampenlichtes steht, aber intensiv denken und leben kann. Behutsames Berühren von Menschen, die einen schmerzlichen Stand im Leben haben, die ihr Inneres bedeckt halten aufgrund tiefer Enttäuschungen, all das könnten Früchte unseres kindlichen Spielens sein, von denen die Mädchen von damals heute als Erzieherin, als Altenpflegerin, als Ärztin oder als geistliche Begleiterin leben.

„Wer bist du? Woran erkenne ich dich? Wie zeigst du dich mir?“ ist eine spannende und ist und war auch manchmal eine Leben entscheidende, eine Weg weisende Frage.

Diese Frage nach dem Kennen einer Person, dem Erkennen eines Menschen stellte sich vor zweitausend Jahren dem letzten Propheten einer zu Ende gehenden Zeit. Sie stellte sich dem Cousin Jesu, Johannes dem Täufer. Er, der Schwellenprophet, aufrecht und treu dem Alten verhaftet, sah dem Neuen mutig ins Gesicht, als er auf sich zukommen sah, was die Welt, auch die seine, von Grund auf verwandeln würde. Johannes hielt dem Endgültigen stand und stellte sich in seinen Dienst.

Dabei machte es ihm der, von dem er geträumt, den er ersehnt und den er verkündet hatte, nicht leicht. Johannes Kennenlernen Jesu geschah nicht in einer blitzartigen Eingebung. Kein erhellender Moment, kein blendender Lichtfunke öffnete ihm die Augen, damit er sagen konnte: Seht das Lamm Gottes. Zwei Mal muss Johannes zugeben: Ich kannte ihn nicht. Auch ich, selbst ich, sein Prophet, kannte ihn nicht. Er war vor mir wie vor euch ein Verborgener. Jesu Erscheinen vor Johannes spiegelt die beiden Anwesenheiten Gottes unter den Menschen wider: Gott erscheint vor aller Augen im Geist und im Wort und ist auch der, der im Verborgenen sich verbergend da ist.

Rainer Maria Rilke (1875-1926), einer der größten Lyriker deutscher Sprache, hat sich mit Johannes dem Täufer beschäftigt, zumindest mit seiner Funktion als der eines Mannes, der den Blick unbestechlich auf die Gegenwart richtet und der klar sieht, was kommt, sieht, wer kommt. Rilke bringt Johannes in seinem Gedicht „Das letzte Zeichen laß an uns geschehen“ in Zusammenhang mit einer überraschenden Gestalt des Ersten, des Alten Testamentes, die man hier nicht vermuten würde. Rilke ruft den König und Dichter, den Feldherrn und Liebhaber, den zum Töten Anstiftenden und den Heiligen David auf, wenn er den Täufer charakterisieren und ihn uns zu erkennen geben will.
Im Ersten Buch der Chronik, im 15. Kapitel, wird erzählt, wie die Bundeslade von Gat, aus dem Haus des Obed-Edom nach Jerusalem gebracht wird, damit Gott unter seinem Volk wohnen kann. Ein festlicher Umzug, eine machtvolle Demonstration des Königtums Gottes - und das des David! Beim Einzug der Lade tanzt David so enthusiastisch, dass er seiner Frau Michal zum Ärgernis wird. Auf diese Szene bezieht sich Rilke in den Schlussversen seines Gedichtes, wenn er sagt: ... lass mich Tänzer dieser Bundeslade, lass mich den Mund der neuen Messiade, den Tönenden, den Täufer sein.“

Rilke schreibt dieses Gedicht am 16. April 1903 als 28jähriger während eines vierwöchigen Aufenthaltes in Viareggio in der Toskana. Es ist Teil und Ausdruck seiner Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen der menschlichen Existenz, die er im dritten Buch seines Stundenbuches als „Das Buch von der Armut und vom Tode“ poetisch bearbeitet.

Rainer Maria Rilke weiß um die Gebrochenheit des Menschen, um seine Vorläufigkeit, um seine nie endende Schwäche. Er selber ist kein strahlender Held, kein unbesiegbarer Heros, keine moralische Lichtgestalt und doch fühlt er, dass er etwas Unverzichtbares, etwas Gültiges zu sagen hat. Rilke ist da, ist in der Welt und flüchtet nicht aus ihr in das abgehobene, esoterische Abenteuer. Er lässt nicht los, wenn es um das Diesseits geht, um das Jetzt, um die Unausweichlichkeit einer unsteten und doch beständigen Verzweiflung. Johannes der Täufer ist für ihn der, der in seinem Umkehrruf auf das Jetzt verweist, auf die Anwesenheit des Endgültigen. Er hüpft, so Rilke, mit seiner Predigt vor der Bundeslade des Neuen Bundes, als er Jesus, den Sohn Davids, auf sich zukommen sieht, so wie er im Leib seiner Mutter hüpfte, als die schwangere Maria ihre Verwandtes Elisabeth besucht.

Die Fleisch gewordene Gegenwart Gottes, dessen Geist nun nicht mehr auf der hölzernen Lade, sondern auf dem Menschensohn ruht, braucht einen Vortänzer, einen Eintänzer, der die Menschen zum Tanz einlädt, die wie Schafe, die keinen Hirten haben, belastet von ihrer Schuld, am Ufer des Lebens stehen. Er braucht einen, der euphorisch und nüchtern, jubelnd und klagend, warnend und tröstend immer neue Schritte wagt und weder der Resignation der Schwachen noch dem Hochmut der Mächtigen die Kraft seines Leidens und seines Liebens leihen wird.

Das Evangelium des zweiten Sonntags in diesem Jahreskreis, lädt ein, Sie und mich, Tönende, Predigerinnen und Prediger des unter uns erschienenen Messias zu werden. Es lädt uns ein, heraus zu kommen aus dem Verstummens unserer erstarrten Träume, heraus aus der Sprachlosigkeit von Gleichgültigkeit und Angst, heraus aus dem Verlust der Liebe, damit wir sagen können: Ich kannte ihn nicht. Aber jetzt kenne ich ihn, den Gesalbten, den Retter, den Einzigen, den Herr über mein Leben und über meinen Tod. So wünsche ich Ihnen und mir einen tönenden, einen lebendigen, einen lichtflutenden Sonntag.

(rv 19.01.2008 mc)








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