„Das eigentlich Herausragende ist, dass sie nicht geschwiegen hat“
Mit der heiligen Hildegard
von Bingen wird zum zweiten Mal eine Frau des Mittelalters zur Kirchenlehrerin erhoben.
Die erste war Katharina von Siena, die allerdings rund 150 Jahre später lebte. Aus
kirchenhistorischer Sicht ist die Anerkennung als Kirchenlehrerin für Hildegard von
Bingen nur schlüssig: Die deutsche Heilige war und ist eine theologisch herausragende
Gestalt nicht nur für ihre Zeit. Wir sprachen darüber mit dem deutschen Ordenshistoriker
Gert Melville, der just am vergangenen Freitag zum neuen Mitglied des päpstlichen
Komitees für Geschichtswissenschaften ernannt wurde und aus diesem Anlass in Rom war.
„Hildegard war eine sehr gebildete Frau – das waren mehrere andere Frauen
ihrer Zeit auch. Das eigentlich Herausragende ist, dass sie nicht geschwiegen hat,
sondern dass sie alles aufgeschrieben hat, und mehr noch, dass sie aus dem Kloster
hinausgegangen ist und gepredigt hat, was geduldet wurde. Sie hat über alles gepredigt,
was Kirche macht, was Religion macht, was Glauben macht, über die Sakramente, über
Heilslehre, über Christologie, sie hat über alles geschrieben. Im Hintergrund aber
stand das Wissen, dass das, was sie sagt, die Wahrheit ist, weil sie es in Visionen
erfahren hat, direkt aus der Transzendenz Gottes hinein in die Immanenz ihrer Welt.
Das gab ihr die Sicherheit und wenn man das alles zusammennimmt, macht sie das einzigartig.“
Papst Benedikt hat einmal gesagt, in der Theologie kommt es nicht darauf
an, innovativ zu sein. Dennoch beobachten wir selbstverständlich über die Jahrhunderte
ein Fortschreiten theologischer Inhalte. Was hat Hildegard in der Theologie bewirkt?
Wo sagte sie, seht her, das ist bedeutsam?
„Es ist richtig, dass man in
der Theologie nicht innovativ sein sollte. Christus hat gesagt, ich bin die Wahrheit,
nicht die Gewohnheit. Die Wahrheit steht fest, es gibt keine innovative Wahrheit.
Aber es gibt Wandel der Erkenntnisfähigkeit, Wandel des Interesses, und da muss das,
was als Wahrheit anerkannt wird, auch neu gesehen, neu formuliert werden. Darin liegt
das Innovative, und da ist die Kirche auch gefordert, innovativ zu sein, indem sie
immer wieder versucht, die Wahrheit zu vermitteln, und das hat Hildegard gemacht.
E war eine Zeit, in der man gelernt hat, dass Glaube nicht etwas ist, was man nur
äußerlich praktizieren muss nach bestimmten Formen, Riten undsoweiter, sondern dass
der Glaube im Herzen sitzen muss. Es ist die Zeit, wo man im Mönchtum formuliert hat,
dass man ein Kloster innen aufmachen soll – claustrum animae, ein Kloster des Herzens.
Und diese Verinnerlichtung, dieser Glaube, in dem der ganze Mensch gefragt ist und
sich einbringt, genau das hat sie versucht zu erklären: in wunderbaren geistlichen
Bildern, in Visionen, die sie beschrieben hat. Das war das Neue – das Nahebringen
des Glaubens.“
Was zeichnet Hildegard von Bingen aus gegenüber anderen
Kirchenlehrern des Mittelalters?
„Dass sie eine Frau war! Ich kann nicht
sagen, und ich glaube das auch nicht, dass sie eine weibliche Theologie gemacht hat.
Das weiß ich nicht, da wäre die Forschung noch viel zu weit zurück, um das zu sagen.
Aber ich glaube, sie hat in ihrer Zeit auch den Frauen viel gegeben, denn auch die
Frauen haben in dieser Zeit gelernt, sich selbst bewusst zu sein als Menschen, die
vor Gott stehen und entsprechend handeln und ihre Seele einrichten müssen. Und die
das dann auch sehr selbstbewusst getan haben. Es war eine Zeit auch der religiösen
Frauenbewegung - das setzt im späten 11. Jahrhundert ein. Die Frauen standen im Mittelpunkt
von vielen Menschen, die pastoral, apostolisch gewirkt haben, die sie angenommen haben,
und dazu zählen so berühmte Leute wie Norbert von Xanten, der Gründer des Prämonstratenserordens.“
Themenwechsel: Sie sind ein frisch ernanntes Mitglied im päpstlichen Komitee
für Geschichtswissenschaften. Wie wird man das?
„Formell gesehen, wird man
vom Papst ernannnt, und ich war gestern sehr stolz und empfinde es als ungeheure Ehre,
vom Papst ernannt zu sein. Man kann nicht gewählt werden oder sich bewerben. Warum
sich der Papst dazu entschieden hat, weiß ich nicht! Ich kann nur vermuten, ich glaube
man hat jemanden gebraucht, der sich ein bisschen mit Ordensgeschichte auskennt.“
(rv 27.05.2012 gs)